Binnendifferenzierung im Englischunterricht in Klasse 5

Ein Blick auf zweisprachige und muttersprachliche Lernende

Der Fremdsprachenunterricht hat unter den Unterrichtsfächern eine besondere Stellung, was die Binnendifferenzierung bei starken Lernenden anbelangt. Kleine Einsteins haben wir nur selten im Physikunterricht, kleine Goethes im Deutschunterricht sind auch eher rar. Aber Kinder, die zweisprachig aufwachsen und damit schon meilenweit über den Inhalt des ersten weiterführenden Englischlernjahres hinaus sprachkompetent sind, die gibt es immer mal wieder in unserer globalisierten Welt. Es ist eben gar nicht mehr so selten, dass ein oder zwei Elternteile englische Muttersprachler oder internationale Globetrotter sind.

Diese Schüler:innen im Unterricht zu fördern, kann eine Herausforderung sein. Aber in den meisten Fällen ist es eine wunderbare Chance und Bereicherung für Lehrer:innen, Mitschüler:innen und die zweisprachigen Lernenden selbst.

Entwicklungsphase beachten

In diesem Text geht es in erster Linie um die jüngeren Jahrgangsstufen der weiterführenden Schule: die Jahrgänge 5 und 6, denn hier sind die Herausforderungen und Gegebenheiten ganz andere als beispielsweise in der gymnasialen Oberstufe. Zunächst ist hier die Entwicklungsphase spannend: Die Kinder orientieren sich gerade erst neu in einer noch ungewohnten Umgebung – der weiterführenden Schule. Die Klassen sind frisch zusammengestellt aus verschiedenen Grundschulklassen, einige Kinder kennen sich untereinander noch nicht und das Bedürfnis, nicht aufzufallen, ist meist groß. Gleichzeitig stellt der Neustart für alle eine Umorientierung dar. Die Lernenden bringen aus der Primarstufe sehr unterschiedliche Vorkenntnisse und Mindsets mit

Extraversion und Introversion

Weil es doch immer etwas anschaulicher ist, konkret zu schreiben, berichte ich heute von Gordana: einer zehnjährigen Schülerin, deren Eltern im diplomatischen Dienst tätig sind. Gordana hatte bereits in drei verschiedenen Ländern gelebt, eine englischsprachige Grundschule besucht und sprach und verstand Englisch ausgezeichnet.

Welche Stärken und Schwächen bringen die jungen Muttersprachler mit? Gordanas Stärken: Kommunikationsfähigkeit, sehr gute soziale Kompetenzen, schnelle Auffassungsgabe, Extraversion, sehr gute Aussprache, Ehrgeiz. Ihr Potenzial für Weiterentwicklung im ersten Lernjahr: Orthographie in den Sprachen Englisch und Deutsch.

Gordana blühte im Englischunterricht auf. Zu Beginn der Stunde konnte sie häufig eine kleine Lehrerinnenrolle übernehmen, Vokabeln abfragen, Sätze anlesen, die andere vervollständigten, häufig konnte sie als Erstleserin eingesetzt werden und so als Sprachvorbild dienen.

Auch andere Schülerinnen kamen für diese Rollen in Frage: Annabelle war Tochter eines Amerikaners, Celia häufig in Annabelles Haushalt zu Gast. Insgesamt traten sie deutlich schüchterner als Gordana auf. Der Faktor Extraversion/Introversion ist auch ausschlaggebend, ob und in welchen Situationen Lernende als Vorbild eingesetzt werden können. Diese Situation müssen wir genau beobachten.

Andere starke Schüler:innen weiterbilden

Gordana ließ sich auch mit Begeisterung als Co-Lehrerin einsetzen. In einem Nebenraum übte sie mit vier anderen sprachstarken Schüler:innen das Vorlesen eines Dialogs, der anschließend vor der Klasse präsentiert wurde. Gleichzeitig konnte ich als Lehrkraft mit den übrigen 20 Lernenden Grundlegenderes wiederholen. Nach und nach trug Gordana so dazu bei, andere starke Schüler:innen zu fördern und Raum für die Förderung der schwächeren Lernenden zu schaffen.

Die von ihr trainierten Schüler:innen konnten dann selbst für Aufgaben aus dem Bereich Lernen durch Lehren eingesetzt werden und waren darauf sehr stolz. Um eine endgültige Voreinteilung der Lernenden zu vermeiden, wurden die Teams, die „draußen“ lernten, immer wieder je nach Aufgabenart neu zusammengestellt.

Die Gruppendynamik im Auge behalten

Gerade in dieser jungen Jahrgangsstufe ist es wichtig, das Klassenklima zu erspüren. Denn so schön Binnendifferenzierung auch ist: Die Lernenden können schnell den Eindruck gewinnen, sie würden ungleich oder ungerecht behandelt, aufgrund ihrer Leistung bevorzugt oder benachteiligt. Während Gordana zunächst in ihrer neuen Rolle aufblühte, hatte sie nach einigen Wochen ein Tief. Im Gespräch stellte sich heraus: Sie fühlte sich als Außenseiterin. Im Anschluss trat sie im Unterrichtsgeschehen etwas weiter in den Hintergrund und andere Schüler:innen übernahmen häufiger kleine Vorbildrollen.

Starke Lernende: nicht nur kleine Hilfslehrkräfte

Egal, ob extravertiert oder introvertiert: Starke Schüler:innen sollten nicht nur zur Förderung anderer eingesetzt werden. Weitere Möglichkeiten, um sie zu fördern:

  • eine Lektüre lesen lassen
  • Lektüren- oder Videovorschläge einbringen lassen
  • mit einem Arbeitsheft eines anderen Lernjahres arbeiten lassen
  • ein Projekt vorstellen lassen
  • einen eigenen Lernplan entwerfen lassen und mit Portfolio dokumentieren
  • mit einem Lernkanal arbeiten lassen, zum Beispiel “In a Nutshell”, National Geographic Kids, BBC Earth KidsSciShow Kids (Die muttersprachlichen Schüler können beispielsweise die Vokabellisten der anderen Schüler als Inspiration für ihre Videosuche verwenden.)
  • Documentaries anschauen: Was interessiert dich heute? Füge das Wort „explained“ deiner Internetsuche hinzu.
  • eine Geschichte schreiben
  • ein Comicbuch lesen
  • mit anderen Muttersprachler:innen in Kontakt treten oder bleiben: z.B. Brieffreundschaft mit Jugendlichen aus einem früheren Wohnort, Kontakte zwischen zwei Schulklassen ermöglichen, Videochats
  • ein Laufdiktat absolvieren (Rechtschreibförderung)
  • eine Reizwortgeschichte aus Vokabeln zusammenstellen, die für die Klasse  neu sind
  • ein eigenes Wörterbuch verfassen lassen („Was ich schon kann“)
  • Eselsbrücken für Rechtschreibung finden lassen
  • ein Quiz entwickeln lassen, das im Unterricht eingesetzt werden kann
  • Raum für Übungen lassen und Aufgaben anbieten in Bereichen, in denen Nachholbedarf besteht, etwaWortschatzarbeit mit Schwerpunkt auf deutsches Vokabular (Übungen für andere Unterrichtsfächer)
  • in Deutsch oder Englisch mit Duolingo arbeiten

Da die Lernenden vermutlich trotz ihres fortgeschritten Sprachlernstandes Klausuren und Tests mit der Klassengemeinschaft schreiben, sollten sie in Ankerstunden immer wieder mit der Klasse zusammenkommen. Diese Stunden sollten eine gewisse Regelmäßigkeit haben (zum Beispiel: Doppelstunde an jedem zweiten Montag. In diesen Stunden könnten die anderen Lernenden ihren Lernstand präsentieren, sodass die zweisprachigen Lernenden wieder über den Unterrichtsstoff der Klasse im Bilde sind.

Immer wieder mischen

Nicht nur in Frontalphasen oder Gruppenarbeiten zeigen sich die Vorteile und Tücken von Binnendifferenzierung, sondern auch in einer besonders wichtigen Phase des Englischunterrichts: der „Pair“-Phase. „Think – Pair – Share“ steht wie keine andere Methode für den Fremdsprachenunterricht. Typischerweise haben die Lernenden hierbei zunächst mit dem eigenen Gehirn zu tun, dann dem von unmittelbaren Sitznachbar:innen und schließlich mit der ganzen Klasse. Ein Kind mit schwachen Englischkenntnissen, wackeliger Betonung und geringem Selbstbewusstsein könnte dabei unglaublich von einem starken Sitznachbarn profitieren. Doch in der Realität sitzen diese oft in anderen Bereichen des Klassenzimmers. Der eigene Sitznachbar ist für den schulischen Erfolg ausschlaggebend und starke Lernende ziehen sich gegenseitig nach oben, während schwächere sich gegenseitig wenig fördern können.

Ein gutes Mischsystem, das in Absprache mit Kolleg:innen und Klassenleitung umgesetzt wird (zum Beispiel ein wöchentlicher Wechsel), ist dabei hilfreich. Im Klassenrat entwickeln die Lernenden evtl. Bedingungen, die bei der Sitzplanung berücksichtigt werden können. Doch allen ist klar: Jeden Montag sitzen wir wieder anders. So haben wir alle Gelegenheit für neue Chancen. Die Schüler:innen haben so ihr eigenes Gehirn als Ressource, dann die Ideen des neuen Lernpartners und – aufgrund dieses Austauschs – möglicherweise das Selbstbewusstsein, sich in der Share-Phase mutig einzubringen. So werden nicht immer die Gleichen abgehängt oder einbezogen.

Aus dem gleichen Grund sind auch wechselnde Methoden (z.B. der Einsatz von Redeketten oder Walk-and-Talk-Aufgaben) immer wieder hilfreich: Mit den neuen Methoden kommen oft auch neue Lernanreize.

Reflexion des Unterrichts durch Lernende

Idealerweise beobachten nicht nur wir als Lehrkräfte sehr genau, wie gut diese Art der Binnendifferenzierung funktioniert, sondern auch die Schüler:innen. In meinem schulischen Umfeld hat es sich etabliert, ein bis zwei Lernende am Ende jeder Doppelstunde um Einschätzung zu bitten: Was lief heute (oder in dieser Woche) gut? Was war schwierig? Diese Phase kann im Sinne der funktionalen Einsprachigkeit auf Deutsch durchgeführt werden. Oder sie wird in einer eigenen Zwischeneinheit vorbereitet – mit dem Ziel, die Reflexionsfähigkeit in der Fremdsprache früh zu fördern.

Besonders starke Lernende können kurze schriftliche Reflexionen über ihren Lernstand abgeben und darin auch durchblicken lassen, ob sie sich genügend gefördert fühlen. Die Reflexionen dienen als Grundlage für Gespräche mit der Lehrkraft.

 


Beitragsbild: Clarissa Watson | Unsplash

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Über Mareike McKim

Mareike McKim ist Gymnasiallehrerin für die Fächer Englisch, Deutsch und Darstellendes Spiel an einer Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe in Hessen. Sie ist UNESCO-Delegierte für die Rolle von Bildung für Frieden und Nachhaltigkeit. Gemeinsam mit ihren Kollegen beim Pestalozzi-Programm des Europarats und anderen ehemaligen Finalisten des Weltlehrerpreises setzt sie sich für nachhaltige Bildung und die Anerkennung des Lehrberufs ein. Ihr Konzept einer Bildung für Frieden und Nachhaltigkeit vertritt sie als Sprecherin und Autorin in Fortbildungen und bei Konferenzen, u.a. bei TEDxHeidelberg. Blog: www.mareikehachemer.jimdo.com

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