“It’s verry, verry difficlut!” – Fremdsprachen lernen mit Lese-Rechtschreibschwäche

Dominik war 17, als ich ihn kennen lernte. Ein netter Schüler, interessiert, freundlich, mit mittleren Schulleistungen. Mündlich konnte er sich gut ausdrücken und beteiligte sich gern, aber schriftlich? “Dominik, du hast in der letzten Arbeit 37-mal das Wort „very“ mit zwei “R” geschrieben. Wie kommt das denn?” Klassenkameradin Mia ist eine schulische Überfliegerin, sie wird ein gutes Abitur machen. Aber manche Buchstaben verdrehen sich bei ihr immer wieder: “How” statt “who”, “dos” statt “does”. Und immer “your” statt “you’re”. Aber aufmerksam ist sie und kann Themen gut tief durchdringen. Thomas hingegen hat sich schon in der fünften Klasse ziemlich zurückgezogen, weil ihm Lesen und Schreiben so schwerfallen. Irgendwie hat er sich durch die Mittelstufe gehangelt.

Ich war als Lehrerin noch recht jung, hatte in Referendariat und Studium nichts über Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) gelernt. Als Schülerin hatte ich Schule so erlebt, dass Rechtschreibung sowie das Zählen und Bewerten von Rechtschreibfehlern gefühlt das A und O von Unterricht und Notengebung waren. Der Fehlerindex zog allerdings bei allen meinen Oberstufenschüler:innen die Klausurbewertungen massiv nach unten, auch bei denen ohne diagnostizierte LRS. Wie Schüler:innen mit Lernschwierigkeiten bewertet werden sollen, ist ein großes Thema. Zwischen gnadenloser Gleichbewertung, intransparentem Notenschutz und ungleichverteilten Genehmigungen für Hilfsmittel wird sich politisch sicher noch vieles verändern. Viel spannender ist für mich heute: Wie kann geholfen werden? Wie können wir im Unterricht Förderung anbieten für die spezifischen Schwierigkeiten von Schüler:innen mit LRS und denen, die ähnliche Probleme haben.

Die Kinder- und Jugendpsycholog:innen und -psychiater:innen Elena Ise, Rolf R. Engel und Gerd Schulte-Körne gehen davon aus, dass vier bis acht Prozent der Lernenden an deutschen Schulen eine spezifische Lese-Rechtschreibschwäche haben; sie zählen diese Schwäche zu den häufigsten Entwicklungsstörungen. Oft wird sie in der Familie vererbt. In Gehirnregionen, die mit der sprachlichen Verarbeitung, der Buchstaben-Laut-Zuordnung und der Wortverarbeitung in Verbindung stehen, treten Störungen auf. Neurolog:innen können dies durch bildgebende Verfahren zeigen.

Ein Wort, viele mentale Repräsentationen: Sprachverarbeitung ist komplex und individuell unterschiedlich. Die Gehirne von Schüler:innen mit LRS haben zum Beispiel manchmal Schwierigkeiten mit der Buchstaben-Laut-Zuordnung.

Ein Wort, viele mentale Repräsentationen: Sprachverarbeitung ist komplex und individuell unterschiedlich. Die Gehirne von Schüler:innen mit LRS haben zum Beispiel manchmal Schwierigkeiten mit der Buchstaben-Laut-Zuordnung.

Zwar gibt es wenig Forschung und einheitliche Konzepte zum Themenbereich „LRS und Fremdsprachenlernen“, aber die bestehende empfiehlt konkrete Förderung anhand der diagnostizierten Schwächen, und Üben, in kleinen, machbaren Einheiten. Ein generelles Wahrnehmungstraining bewirkt demnach weniger. Gleichzeitig bedürfen viele Betroffene des Aufbaus eines soliden Selbstbewusstseins oder hoffen zumindest, dass ihnen dieses im Bereich Schule nicht zusätzlich zerstört wird. Expert:innen gehen davon aus, dass die Störung nicht vollständig geheilt oder durch Training kompensiert werden kann. Dennoch beeinflussen die familiäre und schulische Förderung den Verlauf maßgeblich.

Englischlernen: Herausforderung für Kinder mit LRS

Die englische Sprache hat für Schüler:innen mit LRS besondere Herausforderungen, die die deutsche Sprache nicht hat (bei der französischen Sprache ist es auch so): Laute und Geschriebenes passen nicht eindeutig zueinander. Wir kennen vermutlich alle das Gedicht “Our Queer Lingo”, das das Problem gut veranschaulicht und so beginnt:

"Our queer lingo" zeigt: Schreibweise und Aussprache haben auf Englisch ein flexibles Verhältnis.

“Our queer lingo” zeigt: Schreibweise und Aussprache haben auf Englisch ein flexibles Verhältnis.

Dieses Gedicht wäre wohl ein Albtraum für jeden Betroffenen. Es ist also ausdrücklich nicht zu diesem Zweck zum Einsatz im Unterricht empfohlen. Denn das Zusammenbringen von Phonetik und Schrift ist bei LRS ohnehin enorm erschwert.

Stattdessen hier einige Ideen zum Fördern, Fordern und Empfehlen. Viele davon lassen sich auch zur Förderung aller Schüler:innen einsetzen. Dadurch ist in diesem Gebiet nur wenig Differenzierung nötig.

Fordern

Lesen, schreiben, sprechen, hören … auch wenn diese Bereiche aufgrund neurologischer Besonderheiten Schwierigkeiten hervorrufen, gilt es, die Lernenden hier fit zu machen – auch wenn es vielleicht etwas mehr Zeit oder anderer Methoden bedarf. Die Bereiche lassen sich nicht aus dem Lernerleben ausklammern. Und Schüler:innen können hier Fortschritte machen, die ihnen auf ganzer Linie beim Lernen helfen. Jede Hürde zu umschiffen wird beim Thema LRS nicht möglich sein. Trotzdem: Wir tun gut daran, Lernende nicht zum spontanen Vorlesen zu zwingen, sondern vorher Übungsmöglichkeiten mit Audiounterstützung anzubieten. Wenn aufgrund von LRS Situationen entstehen, in denen die Klassenkamerad:innen ungeduldig werden oder lachen, kann das Thema Fehlerkultur thematisiert werden. Denn beim Lernen dürfen Fehler gemacht werden.

Geduldig bleiben

Kinder mit LRS haben oft schon viel Ungeduld und Verunsicherung erfahren. “Warum kannst du dir das denn nicht merken?” Sie halten sich häufig selbst für weniger schlau als andere. Doch hilfreiche Lehrkräfte kennen das Warum: Die LRS macht es den Schüler:innen besonders schwer. Ermutigen Sie Lernende und Eltern dazu, täglich für kurze Zeit zu üben. Eine Idee ist zum Beispiel, dass das Kind sich jeden Morgen zum Frühstück ein bis zwei Sätze (oder fünf Vokabeln) per Laufdiktat selbst diktiert, diese aufschreibt und (mit Hilfe) kontrolliert. Auch die Aufnahmefunktion beim Handy kann hilfreich sein. Hier können einzelne Sätze oder Vokabeln (eingesprochen von Lehrkraft, Elternteil oder als Ausschnitt aufgenommen von einem Audiomedium wie der Begleit-CD zum Lehrwerk) aufgenommen und für das Diktat oder zum Vokabellernen benutzt werden. Es sollte sich von selbst verstehen, dass wir nicht zur Frustration der Lernenden beitragen, indem wir die Geduld verlieren und schimpfen. Wenn der Impuls kommt, also kurz innehalten und tief durchatmen.

Fördern

Abwechslung bietet den Betroffenen die Möglichkeit herauszufinden, welche Methoden ihnen besonders helfen: Worte nach Klang (Reim) und Rechtschreibung in verschiedene Tabellen sortieren, Lieder singen, Kurzfilme mit englischen Untertiteln schauen, Wörter malen und Buchstaben optisch gestalten, Eselsbrücken erfinden und visualisieren – all das kann dazu beitragen, dass sich Wörter, Klänge oder Schriftbilder besser einprägen. Es gibt auch spezielle Apps, die auf die Förderung des Lesens und Schreibens ausgerichtet sind: Die GoLexic-App fordert zum Beispiel auf, ein gesprochenes Wort zu buchstabieren und bietet Leseverständnistraining für ganz überschaubare Satzeinheiten an. Es empfiehlt sich, lieber zu einfach und kleinschrittig zu beginnen als zu herausfordernd. So haben die Lernenden endlich wieder Gelegenheit, kleine Erfolge zu feiern. Es kann übrigens auch hilfreich sein, sehr systematisch vorzugehen: Silben durch Rhythmen hörbar zu machen, typische Vor- und Nachsilben zu isolieren und Wörter nach gleichen Vor- und Nachsilben sortieren zu lassen. Es geht darum, Vielfalt anzubieten.

Stärken sehen

Wer in einem Bereich, der im Umfeld Schule so zentral ist wie Lesen und Schreiben, Schwierigkeiten hat, verdient es umso mehr, als ganze Person betrachtet zu werden, deren Stärken möglicherweise in anderen Bereichen liegen. Wenn es der Spielraum zulässt, können Leistungsnachweise (etwa Vokabeltests) für einige oder für alle Schüler:innen gelegentlich durch kleine mündliche Prüfungen und Präsentationen ersetzt oder ergänzt werden. Stärken zu sehen und zu loben ist für Kinder mit LRS besonders wichtig.

Bei der Korrektur schriftlicher Arbeiten profitieren die Lernenden davon, wenn falsch geschriebene Wörter am Rand oder im Text richtig notiert werden, anstatt abstrakte Korrekturkürzel zu verwenden. Hilfsmittel wie das Nachschlagen und Üben mit dem (elektronischen) Wörterbuch oder das Schreiben mit Korrekturprogrammen von Tablet, Laptop oder Computer sollten bei Hausaufgaben und Projektarbeiten eingesetzt werden. Die automatische Korrektur ersetzt hier die fehlende Möglichkeit der Selbstkorrektur. Mithilfe der elektronischen Korrektur können Schüler:innen dann ihre Texte im Heft nachkorrigieren. Im Sinne des Growth Mindsets, welches sich auf das Verbessern konzentriert, kann die umfangreiche Verbesserung eingesetzt werden, um Noten zu heben und zu zeigen: Mit Hilfe schaffst du es schon.

Aggeliki Pappa, Initiatorin von I love Dyslexia hat die erste Förderschule fürs Englischlernen speziell für Jugendliche mit LRS ins Leben gerufen und den Masterstudiengang “Dyslexia and Literacy Difficulties” in Birmingham entwickelt. Aggeliki sagt: “Schüler mit LRS haben besondere Gehirne. Sie sind besonders kreativ und fortschrittlich.” Als „Störung“ würde sie LRS niemals bezeichnen. Eher als Gabe von Menschen mit besonders hochentwickelter neuronaler Biologie. Zum Sprachenlernen empfiehlt auch sie vor allem multisensorische Merktechniken, systematisches Kategorisieren, spielbasierte Lernformen, den Einsatz von Technik (auch bspw. virtuelle Realität) sowie Lernaktivitäten in der Natur, Achtsamkeit und Selbstbewusstseinstraining.

Richtig empfehlen

Wenn die Wahl einer weiteren Fremdsprache ansteht und die Möglichkeit besteht: Spanisch empfehlen. Spanisch und Italienisch haben eine klare Zuordnung von Buchstaben und Lauten. Im Vergleich zu Englisch und Französisch sind sie für Schüler:innen mit Lese-Rechtschreibschwäche einfacher zu erlernen. Wenn Betroffene ohnehin mit Bereichen des schulischen Lebens überfordert sind, ist es durchaus legitim, in diesem Bereich den leichteren Weg zu wählen. Es gibt einige Hinweise darauf, dass bei Sprachen, die sehr klaren Regeln folgen, andere Hirnregionen aktiv sind als bei sehr unregelmäßigen wie Englisch. Es ist also durchaus möglich, dass die Lese-Rechtschreibschwäche in einer Sprache im Vergleich zu einer anderen weniger stark ausgeprägt oder sogar gänzlich nicht vorhanden ist.

Fachleute fragen

Gibt es in der Schule eine Fachperson für LRS? Oder eine externe Kraft, die eine Fortbildung anbieten kann? Haben Lernende mit LRS bereits außerhalb der Schule Förderung erhalten? Wissen sie, was ihnen guttut? Haben Sie mit Psycholog:innen, Logopäd:innen, Nachhilfeinstituten zusammengearbeitet? Gibt es neue ergänzende Materialien für die spezielle Förderung bei Lehrbuchverlagen und digitalen Materialien? Gibt es Integrationshelfer:innen an der Schule? Förderunterricht? Ein Zeitbudget für die Förderung? Als Lehrkraft muss man nicht immer das Rad neu erfinden. Einige andere talentierte Fachleute haben vielleicht schon Speichen, Rahmen oder Achse angefertigt und stellen ihr Wissen und ihre Schablonen zum Anpassen zur Verfügung.

Thomas, Mia und Dominik haben alle ihr Abitur geschafft. Mit partiellem Notenschutz und Wörterbuchhilfe. Mit unterschiedlichem Übeaufwand und Fortschritt. Rechtschreibkorrekturprogramme müssen sie unbedingt in ihrem Leben weiterhin verwenden. Sonst kommen die ersten Bewerbungen enttäuschend ablehnend zurück. Aber sie haben Strategien kennen gelernt, mit denen es besser wird. Und daran arbeiten sie wahrscheinlich auch heute noch.

 


Beitragsbild: Bruno Martins | unsplash.com

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Über Mareike McKim

Mareike McKim ist Gymnasiallehrerin für die Fächer Englisch, Deutsch und Darstellendes Spiel an einer Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe in Hessen. Sie ist UNESCO-Delegierte für die Rolle von Bildung für Frieden und Nachhaltigkeit. Gemeinsam mit ihren Kollegen beim Pestalozzi-Programm des Europarats und anderen ehemaligen Finalisten des Weltlehrerpreises setzt sie sich für nachhaltige Bildung und die Anerkennung des Lehrberufs ein. Ihr Konzept einer Bildung für Frieden und Nachhaltigkeit vertritt sie als Sprecherin und Autorin in Fortbildungen und bei Konferenzen, u.a. bei TEDxHeidelberg. Blog: www.mareikehachemer.jimdo.com

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