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Kinderleicht neue Wörter lernen

Muttersprache vs. Fremdsprache: So kommt Wortschatz ins Hirn

Es ist faszinierend zu beobachten, wie sich Kleinkinder an ersten Wörtern probieren und aus ihnen laufend neue Begriffe herauspurzeln. Akzentfrei, zutreffend, scheinbar mühelos. In Wirklichkeit geschieht das natürlich weder „über Nacht“ noch „ganz von allein“. Monatelanger intensiver Input, unzählige Interaktionen, Geschichten, Rituale sind nötig, bis Kinder schließlich selbst Sprache produzieren. Trotzdem: Wäre es nicht zu schön, wenn man auch jenseits der Kindheit noch Sprachen auf diese Weise lernen könnte?

Die Gabe zum Spracherwerb hält ein Leben lang

Die gute Nachricht für alle, die neue Sprachen gern „kinderleicht“ lernen möchten: Es ist wissenschaftlich ganz und gar nicht bewiesen, dass wir die kindliche Sprachlernfähigkeit irgendwann verlieren. Studien legen lediglich nah, dass ab einem gewissen Alter die Aussicht auf akzentfreies Sprechen rapide sinkt. Aber wie weit jemand käme, der als Erwachsener den gleichen intensiven, hochwertigen Input bekäme wie ein Baby, ist schwer zu sagen.

Fest steht jedenfalls, dass das Gehirn auch im Erwachsenenalter noch zu Lernprozessen fähig ist, die typisch für den kindlichen Spracherwerb sind. Zum Beispiel gibt es zahlreiche Beobachtungen von Lernenden, die anhand des sprachlichen Inputs selbst Grammatikregeln ableiten. Auch wenn längst noch nicht abschließend erforscht ist, wie Spracherwerb abläuft und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen: Mit ziemlicher Sicherheit lässt sich sagen, dass die häufigsten Unterschiede zwischen dem Erwerb der Muttersprache und einer in der Schule gelernten Fremdsprache nicht eine Frage des Lernalters, sondern vor allem der Methode sind: Explizite Instruktion, die Präsentation von Regeln und Wortschatzlisten setzen andere Lernprozesse in Gang als der Erstsprachenerwerb.

Wie sich Mutter- und Fremdsprache unterscheiden

In jedem Fall gibt es eine Reihe von tendenziellen Unterschieden zwischen der Mutter- und Fremdsprache, zum Beispiel diese:
• Beim Erstsprachwerb lernen Kinder Wortformen und Bedeutungen gemeinsam. Im Fremdsprachenunterricht hingegen spielen neue Bedeutungen eine sehr geringe Rolle. Wer im Englischunterricht „dog“ lernt, weiß schon, was ein Hund ist. Allerdings gibt es häufig kleinere Unterschiede in den Bedeutungen in der Mutter- und der Fremdsprache – die sollte man mit der Vokabel dazu lernen. Zum Beispiel weist Wortschatz-Blog-Autor Dennis Gressel darauf hin, dass „Familie“ auf Deutsch nicht mit der lateinischen „familia“ gleichzusetzen ist.
• Gibt es keine Lehrkraft, übernimmt das Gehirn die „Analyse“ des sprachlichen Inputs. Es leitet selbst Grammatikregeln ab und erkennt einzelne Wörter, Endungen usw. im Sprachfluss – unbewusst wohlbemerkt.
• Wörter, die als fremdsprachliche Vokabeln gezielt gelernt werden, „sitzen“ weniger gut als unser muttersprachlicher Wortschatz. Wer eine Fremdsprache jahrelang nicht nutzt, ringt stärker nach Worten als jemand, der seine Muttersprache selten gebraucht (etwa weil er oder sie zum Beispiel im Ausland lebt).
• Studien zeigen, dass wir in der Fremdsprache weniger emotional sind als in unserer Muttersprache.
• In einem typisch „muttersprachlichen“ Setting vergehen Monate bis zur ersten eigenen Sprachproduktion. Danach nimmt die Sprachkompetenz rapide zu. Im Vergleich dazu sprechen Lernende im Fremdsprachenunterricht ziemlich schnell ihre ersten eigenen Sätze. Die extremen Lernzuwächse des Erstspracherwerbs bleiben aber aus.

Was bedeutet das für die Wortschatzarbeit im Unterricht?

Hand aufs Herz, wer möchte wirklich eine Fremdsprache so lernen wie ein Kind? Der wahrscheinlich stärkste Grund, warum wir in der Schule nicht auf totale Immersion setzen, sondern auf Lehrwerke, liegt wohl darin, dass letztere schneller zu Erfolgen und aktivem Sprachhandeln führen. Trotzdem können Lehrende und Lernende an vielen Stellen von der menschlichen Sprachlernfähigkeit profitieren, indem sie ihre Lernangebote ein bisschen stärker am Erstspracherwerb orientieren.

Nina Toller hat in einem sehr lesenswerten Blogbeitrag zusammengestellt, was sich die Wortschatzarbeit in der Schule vom Erstspracherwerb abschauen kann – unter anderem Wiederholungen, Visualisierungen und eine Anwendung neuer Wörter auf möglichst vielfältige Art und Weise.

Einen weiteren Hinweis hat der Linguist Michael Lewis in seinem Grundsatz-Werk „The Lexical Approach“ bereits 1993 geliefert: Kinder erwerben den Wortschatz ihrer Muttersprache nicht Wort für Wort, sondern beginnen mit „chunks“. Gemeint sind damit Mehrwort-Kombinationen, die sie zunächst als Ganzes lernen. Er viel später sind sie in der Lage, die chunks zu analysieren und zu zerlegen. Solche Mehrwort-Kombinationen sind zum Beispiel Floskeln wie „by the way“, aber auch ganze, häufig verwendete Sätze wie etwa „How are you?“ oder auch Kollokationen. Lewis rät dazu, Wörter nicht isoliert, sondern immer eingebettet in Sätze zu lernen. Der Vorteil: Die Schülerinnen und Schüler lernen von Anfang an eine idiomatische Ausdrucksweise. Außerdem fördert dieses Vorgehen die Verknüpfung neuer Wörter mit bereits bekannten, und das wiederum ist hilfreich fürs Behalten.


Beitragsbild: fotolia #142540117 | Urheber: Africa Studio

alexandra mankarios

Über Alexandra Mankarios

Studierte Sprachlehrforscherin, Journalistin und privat ein echter Sprachenfan: Spricht vier Sprachen fließend und hat zwei unterrichtet. Begeistert sich für Semantik und würde gern einmal ihr eigenes mentales Lexikon aufschlagen.

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