Übungen und Ziele beim Wortschatzlernen aufeinander abstimmen
Für jede neue Vokabel müssen sich die Schülerinnen und Schüler drei Dinge merken: die Wortform, die Bedeutung und die Verbindung zwischen beidem. Studien legen nah, dass dafür drei weitgehend unabhängige Prozesse im Gehirn ablaufen. Im letzten Teil unserer Interviewreihe erzählt der Spracherwerbsforscher Joe Barcroft, wie Lehrkräfte diese Erkenntnis im Unterricht nutzen können.
Frühere Teile der Interviewreihe mit Joe Barcroft können Sie hier (Teil 1) und hier (Teil 2) nachlesen.
Zehn Prinzipien für das Wortschatz-Lehren
Einen Überblick über die wichtigsten Erkenntnisse geben Barcrofts „Ten Principles of IBI Vocabulary Instruction“. „IBI“ steht dabei für „input-based incremental“, also ein durch Input gesteuerten Lernprozess, bei dem kontinuierlich das vorhandene Wissen erweitert wird. Im Interview mit Wortschatz-Blog.de hat Joe Barcroft seine zehn Prinzipien näher erläutert. Die ersten fünf können Sie in unserem Blogbeitrag „Vom Input zum Wortschatzerwerb“ nachlesen. Hier geht es weiter mit den Prinzipien 6 bis 10.
Prinzip 6: Begrenzen Sie erzwungenen Output ohne Zugriff auf Bedeutung, wenn Sie neue Wörter einführen („Limit forced output without access to meaning during the initial stages“).
Barcroft: Wenn Sie eine neue Wortform lernen möchten, sollten Sie darauf verzichten, sie sofort abzuschreiben oder nachzusprechen – sie also direkt zu verwenden, ohne dass die Bedeutung eine Rolle spielt. Das nennen wir „Output ohne Zugriff auf die Bedeutung“. Studien zeigen, dass sich das negativ auf den Lernerfolg auswirkt.
Interessanterweise wirkt sich das Abschreiben von neu präsentierten Vokabeln allerdings ganz anders aus als eine auf den ersten Blick sehr ähnliche Übung. Wenn Sie ein Wort bereits als Input verarbeitet haben und dann versuchen, es selbst aus Ihrer Erinnerung abzurufen und aufzuschreiben, dann ist das eine sehr sinnvolle Übung. Ein Wort einfach nur abzuschreiben oder es aus dem Gedächtnis abzurufen und dann aufzuschreiben sieht also ähnlich aus, ist aber etwas völlig anderes. Abrufen unterstützt das Lernen, kopieren nicht.
Prinzip 7: Begrenzen Sie unnötige Erweiterungen und visuelle Repräsentationen der Wortbedeutung,wenn Sie neue Wörter einführen, („Limit forced semantic elaboration during the initial stages.“)
Barcroft: Ich habe ja schon erzählt, dass es manche inputbasierte Faktoren gibt, die sich positiv auf den Lernerfolg auswirken, zum Beispiel, wenn die Lernenden eine neue Vokabel von verschiedenen Sprechern hören können oder wenn Sie die Wortform irgendwie verstärken oder auch häufig wiederholen. Andererseits kann es sich negativ auf den Lernerfolg auswirken, wenn sich die Schülerinnen und Schüler gleich zu Beginn mit der Bedeutung beschäftigen müssen – etwa wenn sie sofort Sätze mit neu eingeführten Vokabeln bilden sollen. Mein Kollege Mitchell Sommers und ich haben eine Studie zu diesem Thema durchgeführt. Dabei haben wir im Unterricht neue Wörter mithilfe von Bildern eingeführt.
Nehmen Sie zum Beispiel an, die neue Vokabel ist „Eichhörnchen“. Wir haben allen Lernenden sechs Bilder mit Eichhörnchen gezeigt, dazu haben sie das neue Wort gehört. Allerdings haben wir einer Gruppe sechs verschiedene Eichhörnchen-Bilder gezeigt, eine andere Gruppe hat drei verschiedene Bilder je zweimal gesehen, und einer weiteren Gruppe haben wir nur ein einziges Bild sechsmal gezeigt. Wir haben also nicht die Präsentation der Wortform variiert, sondern die Menge an Informationen über die Bedeutung der Wörter.
Wir haben dann herausgefunden, dass es sich negativ auswirkt, mit verschiedenen Bildern zu arbeiten. Je mehr unterschiedliche Eichhörnchen-Bilder Sie sehen, desto schwerer fällt es Ihnen, sich die Vokabel „Eichhörnchen“ zu merken. Eigentlich ist das sehr logisch: Die Verarbeitung der verschiedenen Bilder im Gehirn hat zur Folge, dass weniger Kapazitäten für das Lernen der Wortform zur Verfügung stehen.
Diese Erkenntnis finden viele überraschend, weil sie glauben, dass mehrfache unterschiedliche visuelle Darstellungen der Wortbedeutung („multiple different visual representations of the word meaning“) das Lernen des neuen Wortes in jedem Fall fördert. Manchmal ist das ja auch so, aber eben nicht, wenn es darum geht, eine neue Wortform zu lernen.
Übrigens haben wir im Rahmen dieser Studie auch mit Muttersprachlern gearbeitet. Sie haben die gleichen Bilder gesehen und sollten später die dazugehörigen Wörter in ihrer eigenen Sprache wiedergeben. Da haben wir genau den gegenteiligen Effekt beobachtet – je mehr Variation bei den Bildern, desto besser hatten sich die Studienteilnehmer die Begriffe gemerkt. Ich finde das sehr interessant, weil es genau zeigt, was sich da abspielt. Wenn Sie nämlich die Wortformen bereits kennen, dann sind die verschiedenen Bilder sehr sinnvoll. Unser Erinnerungsvermögen basiert auf semantischen Vernetzungen, und deshalb fördern mehr Bilder das Behalten besser.
Prinzip 8: Fördern Sie das Lernen der fremdsprachenspezifischen Wortbedeutung und der Verwendung der Wörter im Lauf der Zeit („Promote learning L2-specific word meanings and usage over time.“)
Barcroft: In diesem kleinen Satz steckt eine Menge drin. Es geht darum, dass die Lernenden ihr Wissen über die in der Fremdsprache übliche Verwendung eines Wortes im Lauf der Zeit immer mehr erweitern. Ohne Prinzip 8 könnte man sagen: ‚Hauptsache, die Lernenden kennen die Grundbedeutung eines Wortes. Es spielt im Unterricht keine Rolle, ob sie dann noch lernen, wie man das Wort in der Fremdsprache darüber hinaus noch verwenden kann.‘ Besser ist aber, dass man kontinuierlich daran arbeitet, das Wissen über die Verwendung von Wörtern auszubauen. Zum Beispiel lernen englische Muttersprachler im Spanischunterricht zunächst vielleicht, dass die Vokabel „cambiar“ auf Englisch „to change“ heißt. Dazu müssen sie aber auch irgendwann lernen, dass „einen Scheck einlösen“ auf Spanisch ebenfalls mit „cambiar“ gebildet wird. Der Ausdruck heißt dann „cambiar un cheque“. Sie erweitern also ihr Wissen über die im Spanischen gebräuchliche Verwendung des Verbs „cambiar“.
Man sollte meinen, wir bräuchten keine großen Studien, um zu erkennen, dass Prinzip 8 essenziell ist. Aber im Alltag vergessen wir das manchmal. Das Ziel, das sich hinter dieser Empfehlung verbirgt, ist selbst für Muttersprachler kaum zu erreichen. Es kommt zum Beispiel bei mir durchaus vor, dass ich eine englische Redewendung höre, die ich bisher nicht kannte. Mit diesem neuen Input kann ich dann mein Wissen über die Wörter in dieser Redewendung erweitern. Worauf ich hinaus will: Alles Lernen geht vom Input aus. Wir müssen den Lernenden also geeigneten und vor allem korrekten Input anbieten. Deshalb rate ich auch von Aufgaben ab, bei denen Lernende zum Beispiel aus fünf Möglichkeiten die korrekte Redewendung auswählen. Das bedeutet nämlich, dass vier der fünf Möglichkeiten falsch sind, trotzdem könnten sie von den Lernenden wie Input verarbeitet werden.
Prinzip 9: Steigern Sie im Lauf der Zeit von einfacheren zu anspruchsvolleren Aufgaben („Progress from less demanding to more demanding activities over time.“)
Barcroft: Prinzip 9 knüpft gewissermaßen an 8 an und betont noch einmal, dass das Wortschatzwissen über die Zeit wachsen muss. Paul Nation hat sich Gedanken über den „learning burden“ eines Wortes gemacht: Wir aufwendig es ist ein Wort zu lernen, insbesondere wenn man die lange Liste an Informationen berücksichtigt, die man zu einem Wort kennen sollte. Wenn man also im Lauf der Zeit von einfacheren Lernaktivitäten zu anspruchsvolleren übergeht, dann bekommen die Lernenden am Anfang mehr Zeit, um die neue Wortform zu lernen, später können sie dann kontinuierlich ihr Wortwissen ausbauen.
Prinzip 10: Setzen Sie wissenschaftliche Erkenntnisse um, die das Unterrichten von Wortschatz betreffen („Apply research findings with direct implications for vocabulary instruction.“)
Barcroft: Wer viele Forschungsergebnisse kennt, kann das direkt im Unterricht umsetzen. Zum Beispiel habe ich kürzlich von einer neuen Studie gehört, die herausgefunden hat, dass leichte körperliche Aktivität das Erinnerungsvermögen verbessert. Diese Art von Forschungsergebnissen zu kennen kann für Lehrkräfte hilfreich sein. Und natürlich auch für Personen, die Schulbücher oder Lehrpläne entwickeln. Ich persönlich fände es auch gut, wenn es mehr Konferenzen gäbe, auf denen sich Wissenschaftler und Lehrbuchautoren gezielt austauschen können.
Zur Person
Joe Barcroft ist Professor für Spanisch und Zweitsprachenerwerb am Fachbereich „Romance Languages and Literatures“ der Washington Universität in St. Louis (USA).
Zwei Buchtipps
In seinem Buch „Input-Based Incremental Vocabulary Instruction“ hat Joe Barcroft 2012 die für Lehrkräfte wichtigsten Ergebnisse seiner Forschung zusammengestellt – unter anderem eine Übersicht über die zehn Prinzipen sowie Beispiele für sinnvolle Übungen.
Einen umfassenden Einblick in seine Forschung bietet auch sein 2015 erschienenes Buch „Lexical Input-Processing and Vocabulary Learning“.
Beitragsbild: fotolia #200419286 | Urheber: 9dreamstudio

Über Alexandra Mankarios
Studierte Sprachlehrforscherin, Journalistin und privat ein echter Sprachenfan: Spricht vier Sprachen fließend und hat zwei unterrichtet. Begeistert sich für Semantik und würde gern einmal ihr eigenes mentales Lexikon aufschlagen.