Vokabeln lernen – sieben Mythen unter der Lupe

Kaum eine Aufgabe zieht sich so kontinuierlich durch die Schulzeit wie das Lernen neuer Vokabeln. Trotzdem widmet sich nur ein sehr geringer Teil der Schulzeit der Frage, wie das Lernen neuer Wörter am besten gelingt. Mal gilt Karteikarten-Pflicht, andere nutzen Vokabelhefte oder Apps. Ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler lernt vermutlich einfach mit den Wörterlisten in den Lehrbüchern. Und kaum jemand empfindet helle Freude bei Hausaufgaben nach dem Motto: „Bis Montag Vokabeln von Seite 198 bis 201 können“.

Darüber, wie sich diese Aufgabe am besten bewerkstelligen lässt und welche Relevanz sie überhaupt besitzt, kursieren zahlreiche Mythen. Wer sie kennt und richtig bewertet, kann Stolperfallen beim Lernen neuer Wörter umschiffen. Ein Überblick:

Mythos 1: Grammatik ist wichtiger als Wortschatz

Diese Vorstellung ist so alt wie der Sprachunterricht. Insbesondere der altsprachliche Unterricht. Wer in der weiter entfernten Vergangenheit diese alten Sprachen gelernt hat, wollte vor allem schriftliche Texte in die eigene Sprache übersetzen. Wichtige Hilfsmittel: Kenntnisse von Syntax und Morphologie, ein gutes Wörterbuch und viel Zeit. Diese Herangehensweise hat den Weg zum Fremdsprachenunterricht lange geprägt. Ich wette, dass sich die Sprachwissenschaft in Europa ganz anders entwickelt hätte, wenn die alten Römer nicht Latein gesprochen hätten, sondern Englisch oder Japanisch – also Sprachen mit weniger kleinteiliger und morphologielastiger Grammatik, dafür aber anderen Herausforderungen. Inzwischen soll der Fremdsprachenunterricht vor allem zur Kommunikation befähigen, zum Sprechen, Verstehen, Schreiben, Handeln. Dafür ist natürlich auch Grammatik nötig, aber der Wortschatz rückt stärker in den Fokus. Oder anders gesagt: Die richtige Vokabel mit der falschen Endung ist verständlicher als jedes perfekt gebeugte, aber völlig ausgedachte Wort.

Mythos 2: Wortschatz und Grammatik sind zwei getrennte Bereiche

Habe ich eben geschrieben, dass Wortschatz im Zweifelsfall wichtiger ist als Grammatik? Hier folgt das „Ja, aber“: Die Vorstellung, dass Wortschatz und Grammatik zwei voneinander getrennte Bausätze der Sprache sind, ist eigentlich zu einfach. Das Gehirn jedenfalls trennt nicht so streng. Das zeigt sich zum Beispiel bei regelmäßigen Verben: Wer die Konjugation beherrscht, kann im Handumdrehen eine unglaubliche Menge unterschiedlicher Verben korrekt bilden. Keine Frage, dass das sinnvoll ist. Studien lassen aber vermuten, dass das dem mentalen Lexikon nicht unbedingt reicht, sondern dass gerade häufig benutzte Wörter bereits als fertig konjugierte Form abgespeichert werden. Das ist zwar redundant, beschleunigt aber das Abrufen solcher Vokabeln. Andersherum hängt auch an zahlreichen Vokabeln eine „Grammatik-Anweisung“: Achtung, transitives Verb! Oder: auf diese Präposition folgt Genitiv!

Was wie eine theoretische Überlegung für Linguistik-Nerds klingt, hat auch praktische Folgen für das Lernen neuer Vokabeln. Zum Beispiel dass es sich lohnt, häufige Verben nicht nur als Infinitiv zu lernen, sondern konjugiert – und am besten in ganzen Sätzen.

Mythos 3: Entweder man beherrscht eine Vokabel oder man kennt sie nicht

Zurück zur oben genannten Hausaufgabe: „Bis Montag Vokabeln von Seite 198 bis 201 können“. Was heißt eigentlich „können“? Mögliche Antworten auf diese Frage:

  1. Im Vokabeltest nächste Woche die richtige Antwort wissen.
  2. Das Wort in einem Text verstehen.
  3. Das Wort selbst richtig anwenden.
  4. Das Wort in jedem Kontext für immer und alle Zeit korrekt anwenden und verstehen.

Im Idealfall führt das Lernen im Lauf der Zeit vom ersten bis zum letzten Punkt. Im realistischeren Fall bleibt der Lernprozess irgendwo zwischen 2. und 3. stehen. Das ist soweit ok, die höchste Stufe darf gern Muttersprachler*innen und Sprachprofis überlassen bleiben.

Trotzdem ist die Einsicht hilfreich: Ein Wort zu lernen ist ein längerer Prozess. Auch wenn die Wortform sitzt, gibt es noch allerhand über eine Vokabel und ihre Verwendung zu erfahren. Viel muttersprachlicher Input hilft hier weiter – und ein bewusster Blick dafür, wie Native Speakers sich ausdrücken und wieso man nicht selbst auf deren Formulierungen gekommen wäre.

Mythos 4: Jede Vokabel hat ihre Übersetzung

Wäre das nicht schön? Man müsste für genau dasselbe Ding einfach nur einen neuen Namen lernen. Gerade am Anfang mag es Schülerinnen und Schülern so erscheinen: Beliebte Anfangsvokabeln wie zum Beispiel Farben scheinen auf den ersten Blick 1:1 übersetzbar. Erst mit wachsender Sprachkompetenz zeigt sich, dass selbst Farbvokabeln durchaus ihre Tücken haben: eine „nuit blanche“ ist weder weiß noch verschneit und eine Songzeile namens „I am blue“ hat auch nichts mit Farbe zu tun. Umgekehrt haben sich vermutlich schon einige Deutsch-als-Fremdsprache-Lernende über die Ausdrücke „blau sein“ oder „blau machen“ gewundert. Es ist also eher so, dass sich die Bedeutungen eine vermeintlichen Vokabelgleichung lediglich überlappen – mal mehr, mal weniger.

Es lohnt sich, diese Erkenntnis im Hinterkopf zu behalten. Zum einen mahnt sie zur Vorsicht zum Beispiel beim Übertragen von Redewendungen von einer Sprache in die andere. Zum anderen weichen die Bedeutungen eines Wortes in Mutter- und Fremdsprache mitunter auf subtile Weise voneinander ab. So kann ein scheinbar wörtlich übersetzter Satz in der einen Sprache eher salopp klingen, in der anderen gestelzt. Und zum dritten mahnt diese Erkenntnis, Wörterbücher mit Bedacht zu benutzen und nicht gleich die erste angebotene Übersetzung eines Wortes unkritisch zu verwenden.

Mythos 5: Wenn man eine Sprache häufig hört, lernt man ganz von selbst neue Vokabeln

Das stimmt – bei kleinen Kindern. Auch Menschen, die in ein anderes Land ziehen, erwerben ziemlich schnell ein paar erste Wörter der neuen Sprache. Nicht durch das reine Hören, wohlbemerkt, sondern durch Kommunikation. Irgendwann allerdings kann dieser Lernprozess zum Erliegen kommen oder sich jedenfalls stark verlangsamen: die sogenannte Fossilisierung setzt ein. Das bezieht sich nicht nur auf Wortschatz, sondern auf das Sprachenlernen insgesamt. Und es geschieht ungefähr zu dem Zeitpunkt, an dem eine Person mit ihren Sprachkenntnissen zufrieden ist und kommunikativ alle Aufgaben bewältigen kann, die sich ihr stellen. „Ganz von selbst“, also ohne Absicht oder Mühe, erweitert sich dann der Wortschatz nur noch, wenn neue Vokabeln notwendig werden. Zum Beispiel, weil sich die Person mit einem neuen Thema beschäftigt und darüber kommunizieren möchte. Wer aber seinen Wortschatz auch ohne Notwendigkeit konstant erweitern möchte, muss ein bisschen Nachhelfen. Austausch mit Muttersprachler*innen zu neuen Themen, Lesen, neue Wörter notieren – damit können auch Menschen, die eine Fremdsprache bereits sehr gut beherrschen, ihren Wortschatz erweitern oder mehr Vokabeln von ihrem passiven Wortschatz in den aktiven überführen.

Mythos 6: Wortfelder erleichtern das Lernen

Wortfelder sind beliebt. Kaum ein Kind kommt durch die Schulzeit, ohne irgendwann fremdsprachliche Mindmaps von Möbelstücken oder Haustieren gezeichnet zu haben. Die Idee dahinter ist einleuchtend: Wer auf einmal lernt, alle gängigen Möbelstücke zu benennen, kann zum Beispiel das eigene Zimmer vollständig beschreiben und erarbeitet sich sprachlich ein neues Thema. Außerdem soll die Präsentation der Vokabeln als thematisches Paket dafür sorgen, dass die Wörter im Gehirn vernetzt werden. Fällt dann irgendwo das Wort für „Stuhl“, sind gleich sämtliche Möbel-Vokabeln im Hirn aktiviert und stehen parat. Allerdings bergen Wortfelder auch Verwechslungsgefahr. Am Ende der Möbel-Lektion im Spanischunterricht könnte nur hängenbleiben, dass estantería und armario Möbelstücke bezeichnen – aber welches der Wörter heißt nun Regal? Und das andere: Schreibtisch? Oder doch Schrank? Um solche Verwechslungen zu verhindern kann es hilfreich sein, zum Beispiel das entsprechende Möbelstück in das Wort hineinzuzeichnen oder sie schrittweise einzuführen,

Noch kontraproduktiver kann es sein, einen Haufen Beinahe-Synomyme als Wortfeld zu verpacken. Aus meinem Französischunterricht ist mir so eine Übung zu den Wörtern genrefaçonmanièreespècesorte in Erinnerung geblieben. Jeder der Begriffe heißt irgendwie „Art“, soviel wussten wir am Ende. Und wir wussten, dass es ganz viele Kontexte gibt, in denen einige der Begriffe richtig und andere falsch sind. Welcher Begriff wann der richtige war – das hatte niemand im Kurs behalten können und ich hatte danach für lange Zeit ein mulmiges Gefühl, wenn ich eins der Wörter verwenden wollte.

Mythos 7: Je mehr Kontext, desto besser

Stimmt – fast immer. Kontext, zum Beispiel ein vollständiger Satz anstelle einer isolierten Vokabel, ist wichtig, um das Wort korrekt zu verwenden. Kontext hilft auch beim Verstehen, weil sich die Bedeutung vieler Wörter erschließen lässt. Allerdings kann ein zu informativer Kontext bei Lernen neuer Vokabeln auch hinderlich sein: Studien zeigen, dass es das Lernen neuer Wortformen erschwert, wenn der Kontext so informativ ist, dass die Vokabel vollständig erschlossen werden kann. Für die Praxis bedeutet das: Beispielsätze sollten zwar die Vokabeln sprachlich einbetten, aber nicht zu viele Informationen über die Bedeutung der Vokabeln enthalten. Also nicht: „Rot ist die Farbe von Blut.“ sondern eher „Mein neuer Pullover ist rot.“

Lesetipp

Einige dieser sowie weitere Vokabellern-Mythen werden hier und hier vorgestellt und wissenschaftlich bewertet.


Beitragsbild: Emiliano Vittoriosi on Unsplash

alexandra mankarios

Über Alexandra Mankarios

Studierte Sprachlehrforscherin, Journalistin und privat ein echter Sprachenfan: Spricht vier Sprachen fließend und hat zwei unterrichtet. Begeistert sich für Semantik und würde gern einmal ihr eigenes mentales Lexikon aufschlagen.

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