Wie viel Wortschatz brauchen wir?
Und: warum Mut zur Lücke wichtiger ist als ganz viel Vokabular
Ich erinnere mich noch gut an die Sommerferien nach meinem ersten Jahr Englischunterricht. Voller Vorfreude legte ich mir Sätze zurecht, die mir bei der Begegnung mit anderen Kindern helfen sollten. Mich faszinierte der Gedanke, dass sich durch die neuen Sprachkenntnisse eine Tür geöffnet hatte und ich plötzlich mit ein paar Milliarden Menschen auf der Welt kommunizieren konnte und nicht nur mit einer – weltweit gesehen – Handvoll Deutscher, Österreicher und Schweizer. Allerdings machte mich die Aussicht auf echte Kommunikation mit wirklich richtig anderssprachigen Kindern auch ein bisschen bange. Die Frage, auf die ich keine Antwort wusste: Was mache ich, wenn meine Gesprächspartner Wörter benutzen, die ich nicht kenne? Der Ausgang meiner ersten englischen Konversation schien mir nicht von der Grammatik, sondern vor allem vom Umfang meines Wortschatzes abzuhängen.
Ich vermute, dass sich viele so wie ich daran erinnern, wie sie ihre neuen Fremdsprachenkenntnisse das erste Mal aus dem Klassenzimmer hinaus in die Welt getragen haben. Und viele haben dabei wahrscheinlich wie ich erfahren, dass man schon mit wenig Wortschatz erstaunlich viel anstellen kann.
Ein solider Grundwortschatz
Etwas mehr als 1.000 Vokabeln umfassen die meisten Englischlehrwerke für Klasse 5 am Gymnasium. Sollte am Ende des Schuljahres jemand aktiv und passiv alle Vokabeln beherrschen, bräuchte er oder sie sich um den Erfolg zukünftiger Kommunikationsversuche wenig Sorgen zu machen – zumindest in Bezug auf den Wortschatz. Mit 1.000 bis 2.000 Wörtern lässt sich bereits beträchtlicher Teil des Alltags bestreiten, hat der neuseeländische Linguist Paul Nation durch Textanalysen errechnet – vorausgesetzt natürlich, es handelt sich um die gängigsten Alltagsbegriffe. Höher setzt mit 3.000 Wörtern das Projekt Oxford 3000 an: Die von den Machern des Oxford Dictionary zusammengestellte Liste soll Englischlernern eine Übersicht über die häufigsten Wörter geben.
Wortschatzniveau in Texten analysieren – per Mausklick
Wer wissen möchte, wie viel Grundwortschatz ein englischer Text enthält, findet im Netz Hilfe: Auf Basis von Häufigkeitslisten analysiert der Vocabulary Profiler von Lextutor.ca den Schwierigkeitsgrad eines beliebigen Texts. So lässt sich zum Beispiel mit wenigen Klicks herausfinden, dass der erste Absatz von Mark Twains „Adventures of Huckleberry Finn“ zu 86 Prozent aus den nach Paul Nation häufigsten 1.000 Wörtern besteht. Ein beliebiger Artikel des britischen Guardian hingegen schöpft nur zu 72 Prozent aus den häufigsten 1.000 Wörtern und ist damit deutlich schwieriger.
Welche Wörter im Text wie häufig oder selten sind, kennzeichnet der Vocabulary Profiler farblich – blaue Wörter entstammen den häufigsten 1.000 Wörtern, grüne den darauf folgenden 1.000 Wörtern, danach folgen gelbe Wörter – und so weiter. Rot markierte Wörter sind gar nicht in den zugrunde gelegten Wortlisten enthalten – so zum Beispiel die Eigennamen in den Texten.
Wie viel nach dem Grundwortschatz kommen sollte
Wer mehr als nur Smalltalk beherrschen möchte, muss auf seinen Wortschatz auf jeden Fall über den Grundwortschatz hinaus ausbauen. Wie viele Vokabeln Lernende auf welcher Niveaustufe beherrschen sollten, lässt aber zum Beispiel der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen offen. Die Sprachforscher James Milton und Thomai Alexiou haben 2009 versucht, diese Lücke zu schließen und für alle Niveaustufen Wortschatzgrößen zu ermitteln. Ihre Berechnungen:
Niveaustufe nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen | Wortschatzgröße Englisch | Wortschatzgröße Französisch |
A1 | unter 1.500 | 1.160 |
A2 | 1.500 bis 2.500 | 1.650 |
B1 | 2.500 bis 3.250 | 2.422 |
B2 | 3.250 bis 3.750 | 2.630 |
C1 | 3.750 bis 4.500 | 3.212 |
C2 | 4.500 bis 5.000 | 3.525 |
Wortschatz erweitern
Miltons und Alexious Analysen zeigen: Nach Erreichen des Niveaus A1 darf sich der Wortschatzerwerb verlangsamen. Schließlich nützt immer neuer Wortschatz wenig, wenn der vorhandene nicht gefestigt ist. Lernenden ist wenig geholfen, wenn sie zwar lange Vokabellisten auswendig beherrschen, aber im „Ernstfall“ nicht die richtigen Wörter parat haben. Trotzdem fragen sich Lerner immer wieder, wie viele Vokabeln sie in kurzer Zeit lernen können und setzen sich häufig zu ehrgeizige Ziele.
Zu ein bisschen mehr Gelassenheit verhilft vielleicht die Erkenntnis, die ich damals in den Sommerferien nach meinem ersten Lernjahr Englisch gemacht habe: Wer über einen gewissen Grundwortschatz verfügt, braucht keine Angst vor Vokabellücken zu haben. Zwar wird unausweichlich der Moment kommen, in dem ein wichtiges Wort fehlt oder das Verstehen scheitert, weil jemand eine unbekannte Vokabel verwendet. Aber ein solider Grundwortschatz reicht auch aus, um im Zweifelsfall nachzufragen, um mit Händen und Füßen den fehlenden Begriff zu umschreiben oder – wenn all das nichts nützt – um eine kurze Pause zu bitten, während man einen schnellen Blick ins Wörterbuch wirft. Auf diese Weise ist Kommunikation nicht nur trotz fehlender Vokabeln möglich – sie kann sogar ein nachhaltiges Erfolgserlebnis werden.
Beitragsbild: fotolia #56754543 | Urheber: Christian Schwier

Über Alexandra Mankarios
Studierte Sprachlehrforscherin, Journalistin und privat ein echter Sprachenfan: Spricht vier Sprachen fließend und hat zwei unterrichtet. Begeistert sich für Semantik und würde gern einmal ihr eigenes mentales Lexikon aufschlagen.
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