Zehn Strategien, um nachhaltig Vokabeln zu lernen
Seit Jahren beschäftige ich mich mit der Frage, wie Menschen Wortschatz in einer Fremdsprache lernen. Unter anderem haben wir hier im Wortschatz-Blog seit über drei Jahren eine breite Auswahl an Tipps, Übungen und Studien zum Thema zusammengestellt. Mitte August bekam ich die Gelegenheit, das gebündelte Wissen noch einmal in einem ganz neuen Kontext anzuwenden – meine Tochter besucht jetzt die fünfte Klasse am Gymnasium. Der zuvor an der Grundschule eher gemütliche Englischunterricht ist seitdem einem straffen Pensum gewichen, mitunter muss sie von einer Woche zur nächsten seitenweise Vokabeln lernen.
Seitens der Schule gibt es wenig Vorgaben und Hilfestellung, wie die Kinder dabei vorgehen sollen. Deshalb habe ich versucht herauszufinden, was ihr am besten hilft. Und da ich höre, dass das Lernen großer Mengen von Vokabeln auch andere Familien umtreibt, stelle ich hier einmal zehn Praxistipps zusammen, die sich nicht nur als sinnvoll, sondern auch familienverträglich herausgestellt haben. Ich würde mich freuen, wenn sich mehr Lehrerinnen und Lehrer die Zeit nehmen würden, den Kindern ein paar dieser Tipps und Methoden mit auf den Weg zu geben.
1. Wohlfühlen muss sein
Unsere Gehirne funktionieren unter Druck nicht besonders gut. Deshalb ist eine entspannte Lernatmosphäre mehr als nur ein Nice-to-have. Zur Lernvorbereitung gehört: einen hellen, gemütlichen Platz zum Lernen finden, Störfaktoren und Unordnung beseitigen. Im Idealfall wird die Lernvorbereitung mit der Zeit zum Ritual, das auch dem Gehirn signalisiert: Gleich bekommst du neues Futter, mach dich bereit.
2. Lerndauer und Pensum planen
Jedes Wort braucht seine Zeit. Zehn Vokabeln am Tag (was über einen längeren Zeitraum richtig viel ist!) bleiben leichter im Gehirn als 70 auf einmal am Wochenende. Ein weiterer Vorteil, wenn man ein klares Pensum für jede Übungseinheit festlegt: Irgendwann ist das Ziel erreicht und das Lernen für diesen Tag beendet. Macht man das nicht, dann erscheint die gesamte Vokabelmenge wie ein Fass ohne Boden. Und das erzeugt ungesunden Druck (s. Tipp Nr. 1). Auch Wiederholungen sollten eingeplant werden, denn sogar Superhirne müssen Wörtern mehrfach begegnen, um sie nachhaltig zu lernen. Liegen ein bis zwei Tage zwischen den Wiederholungen, dann ist die Chance groß, dass die Begriffe auch langfristig im Hirn gespeichert bleiben.
3. Mit Musik geht’s besser
Diese Erfahrung kennen die meisten: Wir können uns zunächst nicht an einen Liedtext erinnern, aber sobald die ersten Klänge und Worte ertönen, ist plötzlich alles wieder da. Grund dafür ist die kuriose Fähigkeit unserer Gehirne, lange Wortfolgen in einem Stück abzuspeichern. Besonders gut klappt das, wenn der Text einem Rhythmus oder einer Melodie folgt. Und darin liegt ein großes – und viel zu selten genutztes – Potenzial für das Lernen von Vokabeln. Wenn wir Sätze mit neuen Vokabeln mit einer Melodie versehen, fällt das Behalten viel, viel leichter. Um zum Beispiel Personalpronomina mit ihren jeweiligen Possessivbegleitern zu verknüpfen, hat meine Tochter Beispielsätze auf den Sprechgesang der Fridays-for-Future-Demos („Kohlekonzerne – baggern in der Ferne …“) getextet: I am in my house. You are in your house. – und so weiter. Wer sich für nicht so melodisch begabt hält, kann auch rappen. Wenn man dazu noch tanzt, verschafft das auch gleich Bewegung beim Lernen. A propos Klang: Studien zeigen, dass wir uns Wörter besser merken, die wir von verschiedenen Sprechern hören. Sind gerade keine zehn verschiedenen Muttersprachler*innen verfügbar, muss man das selbst übernehmen: Einfach mit verstellter Stimme sprechen. Das macht Spaß und hilft – nach meiner empirisch nicht überprüften Erfahrung – auch ein wenig.
4. Beschäftigung mit der Wortform
Das eigentlich neue an neuen Vokabeln ist die Wortform. Die Bedeutung ist uns in der Regel schon bekannt, man muss sie nur noch mit der Vokabel verknüpfen. Anders gesagt: Wer die Vokabel „dog“ lernt, weiß in der Regel schon, was ein Hund ist. Deshalb sollte zunächst das Lernen der Wortform im Vordergrund stehen. Dazu muss man sich mit ihr beschäftigen – jede Form der gedanklichen Auseinandersetzung mit Wortklang und Zeichenfolge hilft. Bei „dog“ könnte das die Nähe zur deutschen „Dogge“ sein oder auch ein mentales Bild von einem Hund, der einen Hot Dog frisst. Rückwärts buchstabieren, ein Bild des Wortes malen, in dem jeder Buchstabe wie ein Hund aussieht, Reimwörter finden – alles ist erlaubt und dient dem Gehirn als Merkhilfe.
5. Erst verstehen, dann selbst produzieren
Bevor Kinder ihre ersten Wörter in der Muttersprache produzieren, haben sie viele Monate lang sprachlichen Input erhalten. Diese Reihenfolge gilt auch beim Lernen einer Fremdsprache: Erst nach ausreichend Input können wir zur Sprachproduktion übergehen. Deshalb ist es sinnvoll, sich zunächst mit der Sprachrichtung Fremdsprache – Deutsch zu beschäftigen und die neuen Vokabeln mehrfach zu lesen und zu hören. Erst wenn die Wörter im Gehirn angekommen sind, ist der Moment gekommen, die Sprachrichtung umzudrehen und die frisch gelernten Vokabeln selbst hervorzubringen.
6. Kommunikative Mini-Übungen erfinden
Die Evolution hat unsere Gehirne nicht entwickelt, damit wir Vokabeln für die Schule pauken. Seine gewaltige Sprachlernfähigkeit soll uns ermöglichen, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Deshalb gilt: Was für die Kommunikation nützlich ist, wird behalten. Sobald die Wortform bekannt ist (aber erst dann!), können selbsterdachte kommunikative Mini-Übungen dazu beitragen, dass die Wörter nicht nur im Abfragemodus, sondern auch für die Kommunikation abrufbar sind. Inspirationen für Übungen bieten die Englischlehrwerke. Auch Rollenspiele, kleine Dialoge oder E-Mail-Entwürfe – etwa an eine ausgedachte Freundin in Großbritannien – eignen sich als erste Anwendungsfelder.
7. Fehler als Lernanlässe nutzen
Egal, wie gut das Lernen läuft – ohne Fehler geht es nicht. Zum Glück haben unsere Gehirne eine eingebaute Korrekturfunktion: Aus Fehlern lernen wir besonders gut. Zum Beispiel so: Alle Vokabeln, die noch nicht sitzen, kommen auf einen „Spickzettel“. Der wird dann im Nebenraum hinterlegt. Wenn in der nächsten Abfragerunde eine dieser Vokabeln an der Reihe ist, ist ein Gang in den Nebenraum und ein Blick auf den Spickzettel erlaubt. Der Zettel bleibt aber im Nebenraum – die Vokabel muss also mindestens für den Rückweg behalten werden. Meistens bleibt sie mit dieser Methode noch lange darüber hinaus im Gedächtnis. Übrigens zeigen Studien, dass kein Versuch, eine Vokabel aus dem Gehirn abzurufen, umsonst ist: Auch gescheiterte Versuche schmieren sozusagen die Verdrahtung zur Vokabel.
8. Zu zweit üben
Ob Klassenkamerad*innen, Geschwister oder Eltern: Mit einem „Sparringspartner“ bieten sich mehr Möglichkeiten, um abwechslungsreich Vokabeln zu üben. Zum Beispiel sind zu zweit verschiedene Abfrageformen und kommunikative Übungen möglich. Außerdem können Übungspartner*innen unmittelbar Feedback geben. Und schließlich kann es auch für das eigene Lernen hilfreich sein, wenn man sich Übungen für andere ausdenkt.
9. Karteikarten-Lernen – auch digital
Vokabeln mit Karteikarten zu lernen, hat viele Vorteile. Vor allem lassen sich bereits beherrschte Wörter von noch zu lernenden trennen, außerdem lässt sich die Reihenfolge variieren. Aber die klassischen Papp-Karteikarten haben auch ein paar Nachteile: Sie anzufertigen ist stupide Fleißarbeit, und wer zu Chaos neigt, hat schnell den Überblick über die vielen in Wohnung und Schulranzen verteilten Kartenstapel verloren. Das Prinzip ist aber auch mit technischen Hilfsmitteln umzusetzen, etwa mit der Favoritenfunktion elektronischer Wörterbücher oder zum Beispiel mit der App Phase 6. Sie bietet eine virtuelle Vokabelkartei auf Smartphone, Tablet oder Computer an. Besonders praktisch ist dabei, dass sich die Vokabeln aller gängigen Lehrwerke als fertige Karteikarten und nach Unterrichtseinheiten sortiert dazukaufen lassen (ca. 10 Euro pro Lehrwerk).
10. Auch Grammatik wie Vokabeln lernen
Eine weit verbreitete Auffassung vom Fremdsprachenlernen unterscheidet zwischen Wortschatz und Grammatik. In diesem Verständnis sind die Wörter die inhaltlichen Zutaten der Sprache, während die Grammatik die Bauanleitung liefert, um die Wörter zu sinnvollen Sätzen zusammenzustellen. Diese Sicht täuscht darüber hinweg, wie tief Grammatik und Wortschatz miteinander verwoben sind. Kinder lernen die muttersprachliche Grammatik immerhin ausschließlich durch kommunikativen Input und nicht etwa durch langatmige Erklärungen. Das lässt sich auch auf dem Fremdsprachenunterricht übertragen. Grammatikregeln zu kennen ist wichtig und hilfreich. Um sie auch anwenden zu können, ist es sinnvoll, Beispielsätze wie Vokabeln zu lernen. Wer zum Beispiel weiß, dass „es regnet“ auf Englisch „it’s raining“ heißt, muss nicht erst das komplette Kapitel „Present progressive“ im Gehirn abrufen. Betreibt man dieses Vorgehen konsequent, erhält das Hirn mit der Zeit genug Futter, um die Grammatik auch dann noch korrekt anzuwenden, wenn die Erinnerung an die dazugehörige Regel längst verblasst ist.
Beitragsbild: pressmaster | Adobe Stock

Über Alexandra Mankarios
Studierte Sprachlehrforscherin, Journalistin und privat ein echter Sprachenfan: Spricht vier Sprachen fließend und hat zwei unterrichtet. Begeistert sich für Semantik und würde gern einmal ihr eigenes mentales Lexikon aufschlagen.